«Wir bringen Produzenten und Konsumentinnen zusammen»

14. August 2020

Die Genossenschaft Agrico feiert dieses Jahr den 40. Geburtstag. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Aber nicht unter den aktuell geltenden Hygienevorschriften – das Fest wurde abgesagt. Wir haben den Hof in Therwil (BL) trotzdem besucht und mit Alexander Tanner gesprochen. Er leitet gemeinsam mit seiner Frau Nicole den Betrieb mit 50 Angestellten. Sie produzieren auf dem Hof Gemüse, Fleisch und Eier, die auf Märkten verkauft und in Abos direkt an die Konsumentinnen und Konsumenten in der Region Basel geliefert werden.Für das Gespräch sitzen wir im Hof des grossen Betriebs, vor dem Rudolf Steiner-Kindergarten, der hier auch zuhause ist, und trinken einen Kaffee. Wir sehen die Zufahrt von der Kantonsstrasse und die verschiedenen Wirtschaftsgebäude, gegenüber stehen Tische und Bänke, jemand macht den Znüni für die Arbeiterinnen bereit. Soeben hat ein Lastwagen eine Ladung Jura-Steine angeliefert.

40 Jahre Agrico – bei Menschen würde jetzt die Midlife-Crisis beginnen. Was steht bei euch an – welche Veränderungen kommen noch, welche Krisen vielleicht auch?

(Ein Auto fährt auf den Hof, der Fahrer sucht Salatsetzlinge für seinen Hof. Alexander Tanner ruft seine Frau an und fragt, wo der Fahrer die Setzlinge findet. «Aber schreiben Sie auf, wie viele Sie nehmen.» Lachend setzt er sich wieder an den Tisch.)

Vielleicht hätten wir doch woanders hinsitzen sollen. Hier sind wir mitten drin im Hofleben. Interessante Frage mit der Midlifecrisis. Bislang hatte ich immer nur an die Krise gedacht, die in einer in einer Beziehung auf die Verliebtheitsphase folgt und man ins Ernsthafte einsteigen muss. Das kennen wir bei der Agrico durchaus. Ob jetzt noch eine Midlifecrisis kommt, kann ich nicht sagen. Ich würde im Moment sowieso nicht von Krise sprechen.
In der Gründung und der darauf folgenden Pionierphase ist viel entstanden. Ein wichtiger Meilenstein war sicher der Hofkauf 1993. Danach begann eine Zeit, in der man sich sehr stark mit Finanzen auseinandersetzen musste. Wir hatten einen Hof gekauft mit sehr viel Schulden. Und die Entwicklung ringsum war nicht einfach. Konkurrenz kam auf. Wir mussten neue Herausforderungen annehmen.

So wie der Betrieb heute dasteht, ist er das Produkt aus 40 Jahren Agrico. Mit verschiedenen Menschen und Ideen, die ihn geprägt haben. Und auch die Umwelt hat sich stark verändert: Das ungewaschene Bio-Rübli, halb vertrocknet von einst, wurde abgelöst von einem sehr vielfältigen Bio-Markt, auf dem man alles findet: Von einer fundamentalistischen Einstellung bis zu einer modernen Produktion.

Sie beschreiben einen Spagat, den die ganze Bio-Szene macht zwischen Markt und Dogma. Was ist für Sie in diesem Abwägen die grösste Herausforderung?

Ich weiss gar nicht, ob ich das Spagat bezeichnen würde. Ist das nicht eher so, wie das Leben nun mal geht? Die Herausforderung für die Agrico liegt darin, eine durchaus idealistische Einstellung in die Praxis umzusetzen. Das Dogma macht ja keinen Spass, wenn man es nicht in der Praxis ausprobiert. Das demonstrieren wir seit 40 Jahren.
Zum Beispiel im Naturschutz. Der LKW, den Sie vorhin haben vorbeifahren sehen, hat Steine gebracht, mit denen wir am Rande unseres neuen Gewächshauses neue ökologische Elemente schaffen. Das in Kombination mit dem modernen Gewächshausbau, der auch mit einer grossen Wärmepuppenanlage geheizt wird. Hier verbindet sich sehr viel: Naturschutz, mit dem Wunsch Geld zu verdienen, mit dem Wunsch das Geld wieder gut einzusetzen, um auch wieder bei der Nachhaltigkeit vorwärts zu machen.

Wozu braucht ihr die Wärmepumpe?

Wir halten damit das Gewächshaus im Winter frostfrei und beheizen es ab März für den Anbau. Als wir 2004 das Gewächshaus gebaut hatten, wollten wir noch nachhaltiger anbauen. Zuerst haben wir deshalb die Dämmung verbessert. Ausserdem gehen wir erst ab Mitte März mit den Tomaten ins Gewächshaus. Das hilft auch, Energie zu sparen – auf Kosten des Ertrags, weil wir erst später mit unseren Tomaten auf den Markt kommen.

Werden die Kunden da nicht ungeduldig?

Unsere Kundschaft wünscht von uns ein sehr nachhaltiges Produkt. Das ist ganz klar. Aber ob sie das dann in ihrem Einkaufsverhalten auch so umsetzen, ist eine andere Entscheidung. Und hier geht das Feld weit auseinander zwischen Leuten, die das, was sie fordern auch leben und andern, die das etwas lockerer nehmen. Die kaufen sich die Tomaten dann, wenn sie sie im Regal anstrahlen.

Reicht die nachhaltige Lebensmittelproduktion, wie Sie es mit der Agrico seit Jahrzehnten vorleben, für den nötigen Wandel oder braucht es dazu nicht eine Transformation des ganzen Ernährungssystems?

Das Stichwort Ernährungssystem ist richtig. Es ist ja im Moment sehr populär, an die Landwirtschaft alle möglichen Forderungen zu stellen und Erwartungen zu formulieren. Aber die Umsetzung davon in die Praxis sehe ich auch in der Verantwortung der Konsumenten. Nicht allein bei uns Bäuerinnen und Bauern,

Welchen Beitrag kann Agrico dazu leisten?

Die Agrico bringt Konsumierende und Produzierende zusammen. Darin sind wir meiner Meinung nach sehr erfolgreich. Nicht absolut. Aber in allen 1000 Teilschritten, die wir machen. Wir geben viel Einblick. Sind sehr transparent. Sie können sich an Arbeitstagen beteiligen, sie können in der Genossenschaft aktiv sein, sie können mitbestimmen. Und das ermuntert natürlich, Verantwortung zu übernehmen.

(Das Telefon klingelt. Alexander Tanner bespricht die Bewässerung eines Feldes mit dem Anrufer)

Auf das Thema Wasser kommen wir gleich. Vorher noch eine Frage zum Kundenverhalten: In der Zeitung habe ich gelesen, Sie haben Dank Corona 50 Prozent mehr Abos verkauft. Konnte dieser Mehrabsatz die Verluste durch die geschlossenen Märkte ausgleichen?

Tatsächlich hat sich die Nachfrage nach Probe-Abos während des Lockdowns verdoppelt. Gleichzeitig hatten wir ein enormes Wachstum hier im Hofverkauf. Das ist explodiert und ist danach auch wieder in sich zusammengefallen. Beim Abo ist die Nachfrage auch jetzt noch eher hoch, hat sich aber eher normalisiert. Wir nähern uns wieder den Zuständen von vorher an. Für wirkliche Veränderung braucht es einen langen Atem.

Vorhin am Telefon ging es um einen Bewässerungswagen. War das Thema Bewässerung vor 25 Jahren, als Sie hier angefangen haben, auch schon so alltäglich?

Bei der Bewässerung beobachte ich eine Intensivierung gegenüber früher. Allerdings mit positiver Auswirkung auf den Ertrag. Ein einfaches Rechenbeispiel: Wenn ich mit 10 Prozent mehr Wasser, 30 Prozent mehr Ertrag habe, war der Wassereinsatz wahrscheinlich sinnvoll. Wenn ich bei diesen Wetterverhältnissen eine Gemüsekultur nicht bewässere, habe ich in der Regel einen Totalausfall. Ohne Bewässerung geht es also nicht.

Also ist die Bewässerung ein Aspekt der Verantwortung, die Sie als Landwirt haben?

Absolut. Aber auch hier teilen wir uns die Verantwortung mit den Konsumierenden. Weil die möchten ja morgen etwas zu Essen auf dem Teller haben. Und wenn wir vom Wasserschloss Schweiz ausgehen, ist es dann vielleicht doch sinnvoller, den Salat hier zu produzieren, als ihn von weit her aus einer trockenen Gegend heranzukarren.

Spüren Sie in der Solidarität auch Grenzen?

Oh ja. Mitte der 90er Jahre steckten wir in einer grosse Krise. Damals wurde Bio salonfähig und war nicht mehr nur eine Sache für wenige Pioniere. Wir mussten lernen, mit dieser neuen Konkurrenz umzugehen. Da haben wir zum Beispiel gemerkt, dass das reine Solidarmodell nicht mehr ausreicht.

Hat das der Idee geschadet?

Ich glaube es hilft der Idee. Aber es ist natürlich, wie bei jeder Veränderung so, dass da Entwicklungen stattfinden, die nicht jedem passen. Vorhin sprachen wir von den Dogmen: Die Gesellschaft verändert sich und mit ihr auch die Ansprüche und Möglichkeiten. Wenn ich einen alten Traktor starte, dann denke ich: Wow ist das eine tolle Maschine, die tuckert so schön. Aber das was da raus kommt ist ein Haufen Russ. Moderne Traktoren sind viel sauberer.

Letzte Frage: Was wünschen Sie sich zum 40. Geburtstag?

Dass es so weiter geht. Und Regen wäre noch gut.

Interview: David Herrmann
Photos: Carla Haisch

 

 

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